Matthias hat Geburtstag – wie auch in den vergangenen Jahren, werden wir einen besonderen Tag an einem besonderen Ort verbringen. Was er am Morgen seines Geburtstages noch nicht weiss: Heute geht es ins hohe Gebirge und zwar nach Vals in Graubünden. Vals ist eine Gemeinde in der Region Surselva, in der neben Deutsch und Italienisch Rätoromanisch gesprochen wird. Bekannt ist Vals, zumindest in der Schweiz, für sein Heilwasser aus der St. Petersquelle.
Der Kanton Graubünden liegt im Südosten der Eidgenossenschaft, dementsprechend lang ist die Anreise. Nach knapp vier Stunden kommen wir in Vals an. Allerdings bleiben wir nicht in dem kleinen Bergdorf, das auf 1.252 Metern liegt, sondern begeben uns auf die knapp 600 Meter höhere Hängela Alp. Wir werden dort zwei Tage und zwei Nächte in einer Jurte verbringen.
Im Winter ist die Hängela Alp mit seiner Bergwirtschaft eine Selbstversorgerhütte und nur auf Tourenski oder mit Schneeschuhen zu erreichen. Jetzt aber können wir die schmalen Wege, die sich am Berg anschmiegend hochschlängeln, langsam mit dem Auto erfahren, und zum Glück gibt es einige wenige Parkmöglichkeiten an der Berghütte.
In der Schweiz, v.a. in Graubünden, dem Tessin und Wallis, werden Alp- oder Almhütten auch Maiensäss genannt, weil das Vieh im Mai auf die Alp getrieben wurde. Und auch in der Hängela Alp wird, der Tradition entsprechend, der Saisonbetrieb im Mai aufgenommen. Die Gondeln der Bergbahn Gadastatt hingegen ruhen noch, und nur wenige Wanderer sind unterwegs.
Wir kommen am Nachmittag bei strahlendem Sonnenschein, blauem Himmel und Wattewölkchen auf der Hängela an und werden freundlich in Empfang genommen. Es ist mit knapp 20°C angenehm warm, und wir geniessen auf der Sonnenterrasse erst einmal die Aussicht bei Kaffee und hausgemachtem Kuchen. Der Blick von der Alp ins Tal ist fantastisch. Besonders eindrucksvoll aber ist die umliegende Bergwelt der Adula Alpen. Stolz erhebt sich das Zerfreilahorn, das auch Bündner Matterhorn genannt wird, vor unseren Augen.
Nach dem kühlen Weckruf unter der Dusche gibt es ein zünftiges Frühstück in der Berghütte. Die beiden Schwestern haben alles vorbereitet: Brot, Bündner Fleisch, Schinken, Früchte, Joghurt aus einer Valser Sennerei und das leckere Hängela Rührei; dazu trinken wir Quellwasser und Kaffee.
Da es immer noch neblig ist, legen wir uns nach dem Frühstück wieder in unser immer noch warmes Bett in der Jurte und schauen durch die durchsichtige Kuppel im Dach den schnell dahinwehenden Nebelfetzen zu, bis schliesslich die Sonne doch durchdringt und der Himmel aufklart.
Wir machen uns parat, um von der Hängela Hütte den Berg weiter aufwärts zu wandern. Auf 1.932 Metern gibt es den kleinen Weiler Stafelti mit wenigen bewohnten Hütten. Weiter geht es kontinuierlich bergauf, und wir erreichen die Leisalp auf 2.051 Metern, die noch nicht geöffnet hat. Mittlerweile ist die Sonne wieder verschwunden, es wird grau, windig und kühl. Wir aber wandern weiter aufwärts, sehen wunderschöne blühende Alpenpflanzen: gelbe Trollblumen, wilde Stiefmütterchen, blauer Enzian und Silbermantel, den Frauenmantel der Alpen. Je höher wir wandern, desto weniger Vögel sind zu sehen und zu hören, bis auf einige Alpenkrähen über uns und fellige pfeifende Tierchen, die wieselflink über die Hänge laufen – Murmeltiere.
Die Baumgrenze haben wir schon längst hinter uns gelassen, und die Vegetation ist nun sehr karg. Zunehmend zeigen sich Reste von Schnee und Eis, es wird steiniger und beschwerlicher. Auf dem Weg nach oben sehen wir grosse Steinwälle; am Abend erfahren wir, dass es in den 1950er Jahren ein schweres Lawinenunglück gegeben hatte und die Steinwälle später zum Schutz errichtet wurden. Wir wandern bis zum Ende des Weges und stehen schliesslich vor dem Felsmassiv des Sattelichopfs.
Ab diesem Punkt ginge es für uns nur weiter, wenn wir auf der Sattelilücke, einem schmalen Grat im Fels, durch das Massiv steigen würden. Aber wir sind mit den erklommenen 2.400 Metern zufrieden und finden, dass wir die erste Wanderung des Jahres gut bewältigt haben.
Nun also treten wir den Rückweg an, den wir am nächsten Tag in unseren Muskeln spüren werden – bergab ist doch immer anstrengender als bergauf. Zurück auf der Hängela nehmen wir ausgehungert einen Apéro, um eine Stunde später das Nachtessen zu geniessen. Zuvor heizen wir noch unsere Jurte mit dem kleinen Gasofen, denn es wird zunehmend windiger und kälter.
Im Gespräch mit der Tochter der Hüttenbesitzerin erfahren wir noch einiges Interessantes zu der Hütte. Mutter und Tochter sind Valser Frauen, die den Betrieb bereits seit sieben Jahren führen, zunächst mit einer Jurte, mittlerweile haben sie eine weitere aufgestellt.
Auch die zweite Nacht verbringen wir sehr angenehm und warm, allerdings wieder ohne Sternenblick, denn der Himmel zieht sich mehr und mehr zu. Als wir am Morgen aufwachen, hat sich die Temperatur auf 2°C abgekühlt – eine Mischung aus Schnee und Regen lässt noch Spuren vom Winter erahnen. Auch heute wird vor dem Z’Morge geduscht, und heute ist das Quellwasser richtig eisig.
Trotz des ungemütlichen Wetters fällt es uns schwer unsere Sachen zu packen, um später nach dem Frühstück die Hängela Alp zu verlassen. Eigentlich hatten wir noch vor Kräuter zu sammeln, aber Schneeregen und Nebel hängen fest. Nach einem weiteren kräftigen Morgenmahl verabschieden wir uns und machen uns auf den Weg zurück in das normale Leben. Es waren zwei traumhafte Tage – die Hängela Alp wird unvergesslich bleiben.