Wir sind bislang viel und häufig gewandert, kennen viele verschlungene Wege im südlichen Schwarzwald und waren an besonderen Orten in der Schweiz. Das naheliegende Frankreich haben wir aber noch nie besucht – das soll nun anders werden.
Das schöne Elsass liegt praktisch vor unserer Haustür, und wir werden einige Tage in einem charmanten Chambre d’hôtes in Diebolsheim verbringen. Das kleine Dorf liegt mitten im Elsass zwischen Strasbourg und Colmar im Département Bas-Rhin.
Pierrette und Jean-Luc von «Ambiance Jardin» haben in einer ehemaligen Scheune eines Bauernhauses vier wunderschöne Gästezimmer eingerichtet. Jedes Zimmer ist einer Pflanze gewidmet und entsprechend gestaltet: das mauvefarbene Zimmer der Hortensie, das rote Rosenzimmer, das gelbe Zimmer Feldblume und das grüne Laubzimmer. Wir verbringen die Tage unseres Aufenthalts im gelben Feldblumenzimmer.
Gäste aus der ganzen Welt haben bereits in der Ambiance Jardin ihre Ferien verbracht. Auf dem Flur hängt eine Weltkarte mit Markierungen der Herkunftsorte, wie zum Beispiel Perm in Russland. Zurzeit sind alle Zimmer von Deutschen bewohnt; viele kommen bereits seit Jahren in die kleine Pension.
Alle Gäste werden am Morgen gemeinsam im gemütlichen Frühstücksraum von Pierrette bewirtet. Es gibt Baguette, Früchte, selbstgemachte Konfitüren und Säfte, Käse und Schinken aus der Region, Tee und Kaffee. Die Tische sind jeden Tag anders gedeckt, der Raum ist originell im Vintage-Stil eingerichtet. Harmonisch und phantasievoll wird Altes mit Neuem, Alltägliches und Ausgefallenes kombiniert, so dass das Auge immer wieder schweifen kann.
Vom Frühstückraum geht es über eine von vielen Blumentöpfen und rankenden Pflanzen geschmückte Terrasse in den verwunschenen Garten. Es gibt verschiedene kleine Oasen mit Sitzplätzen, ein Gartenhäuschen, einen offenen Wohnwagen und unzählige Bäume, Sträucher und Pflanzen. Jeden Tag kann man sich ein neues Plätzchen zum Verweilen aussuchen und den zwitschernden Vögeln lauschen. Einzig die zahlreichen und stechfreudigen Mücken sind ein Wermutstropfen.
Pierrettes Leidenschaft ist die englische Gartenkunst, die sich in jedem Winkel ihres Gartens poetisch ausdrückt. Neben einem Wasserspiel, Skulpturen, kleinen und grösseren, an Ästen hängenden Kronleuchtern und Windspielen findet sich an vielen Ecken eine weitere Leidenschaft von Pierrette: Sie sammelt alte metallene Giesskannen in allen möglichen Grössen.
Die Gastgeberin kümmert sich nicht nur um das leibliche Wohl ihrer Gäste am Morgen, sondern hat auch individuelle Tipps für Ausflugsziele, Events und Restaurantempfehlungen in der Region. Für den ersten Abend reserviert sie uns einen Tisch auf der Terrasse des Restaurants «La Couronne» in Scherwiller. Der kleine Ort mit den für die Region typischen Fachwerkbauten liegt an der Elsässischen Weinstrasse, ca. 20 km von Diebolsheim entfernt, und gilt als Hauptstadt des Rieslings.
Das Restaurant befindet sich in einem Fachwerkhaus aus dem 17. Jahrhundert mit grossem Bogenportal und offenem Innenhof. Hier verbringen wir einen genussvollen Abend mit regionalen Speisen: Choucroute, das elsässische Sauerkraut mit Würsten, Speck und Kassler sowie gebackenem Camembert und Bratkartoffeln. Die Portionen sind dermassen gross und reichhaltig, dass wir leider auf ein Dessert verzichten müssen. Auf dem Dach des Restaurants hat ein Storchenpaar sein Nest errichtet und unterlegt die abendlich-romantische Atmosphäre mit dem eigentümlichen Klappern seiner Schnäbel.
Die späten Abende und Vormittage verbringen wir im paradiesischen Garten von Pierrette und Jean-Luc, umgeben von Blumendüften, dem Gesang der Mönchsgrasmücken und quälenden Stechmücken und planen unsere nächsten Ausflüge – Strasbourg und Sélestat.
Von Pierrette bekommen wir die Empfehlung, unser Auto auf einem günstig gelegenen Park & Ride-Parkplatz am Standrand von Strasbourg abzustellen. Vom Haltepunkt «Baggersee» fahren wir mit der Tram für kleines Geld in die Innenstadt von Strasbourg. Am Place de la République steigen wir aus und überqueren die Brücke am Theater. Der Fluss Ill fliesst mitten durch die Stadt, fächert sich in fünf kleine Flussläufe auf und umfliesst die Grand-Île, die grosse Insel, auf der die Innenstadt und das Altstadtviertel von Strasbourg liegen.
Wir lassen uns langsam durch die unzähligen Strassen und Gässchen treiben. Hier gibt es grosse und kleine Läden, Boutiquen, Restaurants, traditionelle «Winstuben» und Bistros. Die Auslagen der Lebensmittel- und Feinkostläden sind verlockend – die Backwaren der Boulangeries, die feinen Gebäcke der Patisseries und die Wurstwaren der Boucheries. Aber letztlich kommen auch wir nicht am Elsässer Flammkuchen, der Tarte flambée vorbei, den wir in einem kleinen Restaurant zu Mittag essen.
Auf dem Place Kléber findet ein Wochenmarkt statt, auf dem Händler Kleidung, Lederwaren, Schmuck und Haushaltwaren verkaufen. Von hier ist es nicht weit zum ehemaligen Gerberviertel «la Petite France», ein Anziehungspunkt für alle Reisende und Besucher Strasbourgs. In diesem Teil Strasbourgs lebten einst die Gerber, Fischer und Müller der Stadt und auch andere Menschen, die wenig Ansehen in der Bevölkerung genossen. In den Innenhöfen und unter den Dächern der Fachwerkhäuser wurden die gegerbten Häute gespannt, üble Gerüche waren allgegenwärtig. In dem Viertel lag auch ein Militärkrankenhaus, in dem Soldaten gegen die Franzosenkrankheit, der Syphilis, behandelt wurde, woraus sich die Namensgebung ableitet: Die Bewohner nannten das Quartier elsässisch «Zum Französel». Heute ist Petite France kein dunkler, unheimlicher Ort mehr. Die charakteristischen Fachwerkhäuser, das Kopfsteinpflaster der Gassen, die kleinen Kanäle und Schleusen vermitteln ein pittoreskes Flair.
Wir besuchen die protestantische Église Saint Thomas auf der Grand-Île. Es ist die zweitgrösste Kirche der Stadt, die als «Kathedrale des elsässischen Protestantismus» bezeichnet wird, da sie von der Rekatholisierung durch Louis XIV. im 17. Jahrhundert verschont blieb. Ihre Wurzeln reichen bis ins 6. Jahrhundert zurück. Englische Mönche errichteten ein Kloster mit kleiner Kapelle zu Ehren des Heiligen Thomas. Im 7. Jahrhundert führte der irische Mönch Florentius die Regeln des Heiligen Benedikts ein, und die Glaubensgemeinschaft erlebte ihre erste Blüte. Die Kirche des Heiligen Thomas ist bekannt für ihre Silbermann-Orgel, auf der bereits Wolfgang Amadeus Mozart spielte sowie eine Chororgel, die nach den Plänen von Albert Schweizer angefertigt wurde.
Weiter geht es zum Wahrzeichen der Stadt, dem Liebfrauenmünster, der Bischofskirche des Erzbistums Strasbourgs. Bereits in der Antike soll hier ein Tempel gestanden haben, im 4. Jahrhundert wurde ein erstes christliches Heiligtum errichtet, der eigentliche Münsterbau erfolgte dann ab dem 12. Jahrhundert. Allein an diesem Ort könnte man Stunden verweilen und die mittelalterliche Baukunst bestaunen: das beeindruckende Hauptportal mit der grossen Fensterrose, das Licht, das die Buntglasfenster im Inneren erleuchtet, der Engelspfeiler und die astronomische Uhr mit ihren reichen Malereien und Skulpturen.
Mittlerweile aber ist der Tag deutlich vorangeschritten, wir sind müde und hungrig nach so viel Geschichte und Erlebtem und beschliessen, auf dem Place du Marché-Gayot, dem «Verbrennte Hof» mit seinen zahlreichen Restaurants und Bars zu Abend zu essen. Später lesen wir, dass der elsässische Name auf das mittelalterliche Judenpogrom hinweist, bei dem die in der Stadt ansässigen Juden lebendig verbrannt wurden – im Jahr 1349 war die gesamte jüdische Gemeinde ausgelöscht.
Die Geschichte des Elsass ist in vielerlei Hinsicht bewegt, anspruchsvoll und schwierig: territoriale Ansprüche, Eroberungen und Rückeroberungen, Reformation und Gegenreformation, Kriege und Revolution. Es gibt römische, gallische, alemannische und fränkische Spuren, und es wird Französisch, Elsässisch und Deutsch gesprochen.
Am nächsten Tag gehen wir in den kleinen Diebolsheimer Bioladen «Au plus près», der Lebensmittel, Getränke und Waren aus der Region verkauft. Wir decken uns mit den wichtigsten Dingen ein und fahren anschliessend weiter nach Wittisheim in «Les Jardin de Gaïa». Die Inhaberin Arlette Rohmer hat das Unternehmen Mitte der 1990er Jahre aufgebaut und vertreibt fair gehandelte biologische Tees und Gewürze. Als Pionierin auf diesem Gebiet engagiert sie sich für eine umweltbewusste Landwirtschaft und fairen Handel und hat den unabhängigen Familienbetrieb zu einer renommierten Marke geführt. Arlette berät uns persönlich zu verschiedenen Tees, wir dürfen sie ansehen und den Duft verkosten. Im «Maison de thé» mit Zen-Garten geniessen wir später einen der Jasmin-Tees, die wir uns ausgesucht haben.
Überall werden wir sehr freundlich empfangen, umso mehr, als wir erzählen, dass wir bei Pierrette wohnen, die weit über Diebolsheim bekannt ist.
Für uns geht es weiter nach Sélestat. Hier haben wir einen Besuch im «Maison du pain» geplant, ein Museum, das die Geschichte des Brotes und des Backhandwerks aufleben lässt. Sélestat oder Schlettstadt beherbergt auch ein ehemaliges Humanistenkolleg mit einer berühmten Bibliothek. An der im Mittelalter bedeutenden Lateinschule wurden zahlreiche renommierte Schüler ausgebildet, wie Heinrich Kramer, genannt Institorius, der Verfasser des «Malleus maleficarum», des Hexenhammers und der Reformator Martin Bucer.
Zwei Kirchen prägen das kleine Städtchen, das als Geburtsort des Weihnachtsbaums gilt: die spätromanische Kirche Sainte-Foy und die gotische Kirche Saint-Georges, in denen wir eine Zeit verweilen. Unmittelbar neben der Kirche Sainte-Foy liegt das kleine Biorestaurant L’Acoustic, das uns von Pierrette empfohlen wurde. Hier verbringen wir den Abend im Freien unter Bäumen mit vegetarischem Essen, Cidre, Biobier und Livemusik – eine junge Frau verzaubert das Publikum mit Gitarrenklängen und Chansons.
Den letzten späten Abend geniessen wir im Garten von Pierrette und Jean-Luc und sind jetzt schon traurig, dass die Zeit so schnell vergangen ist. Gleichzeitig haben wir unendlich viel gesehen und erlebt. Als wir uns am kommenden Morgen nach dem Frühstück von Pierrette verabschieden, wissen wir, dass wir wiederkommen werden. Für den nächsten Sommer haben wir bereits das Rosenzimmer gebucht – vive les vacances!