Auf der Suche nach einem neuen Abenteuer zieht es uns mal wieder in die Berge. Vor uns liegt ein Wochenende auf einer Alp im westlichen Berner Oberland.
In diesem Frühjahr hat es viel geregnet, und auch für die kommenden Tage lässt die Wettervorhersage nichts Gutes erwarten – ausgiebiger Regen und kalte Temperaturen laden nicht unbedingt zu Bergwanderungen und Übernachtungen in einer Alphütte ein. Einige Tage zuvor hatten wir überlegt, unseren Aufenthalt aufgrund der unbeständigen Wetterlage zu verschieben, was aber mit entsprechenden Kosten verbunden wäre; also beschliessen wir es so zu nehmen, wie es kommt.
Unweit des Thuner Sees starten wir in der Gemeinde Erlenbach im Simmental. Mit der Seilbahn geht es von der Talstation zunächst zur Mittelstation Chrindi auf 1.637 m. Vor unseren Augen breitet sich die idyllische Schönheit des Berner Alpenlandes aus – grüne Bergwiesen und ein leuchtendblauer See, der Hinterstockensee, der vor allem bei Anglern sehr beliebt ist. Von hier aus könnten wir am See entlang durch den Wald zur Oberstockenalp hinaufwandern, die nur zu Fuss erreichbar ist, entscheiden uns aber, mit einer weiteren Gondel zur Bergstation des Stockhorns zu fahren, um von dort abwärts zur Alp zu laufen.
Das Stockhorn ist mit 2.190 m der höchste Berg der Stockhornkette. Von der Sonnenterrasse des Bergrestaurants hat man einen beeindruckenden Blick auf die Berge der Schweizer Alpen, wie dem Titlis, dem Schreckhorn, dem Finsteraahorn und dem markanten Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau. Und auch das Wetter ist deutlich besser als erwartet, es ist angenehm mild und sonnig mit wenigen Wolken am Himmel.
Nach einer zünftigen Stärkung im Bergrestaurant machen wir uns auf den Weg zur Oberstockenalp, die am Südhang des Stockhorns auf 1.776 m liegt. Es gibt zwei Wege dorthin, über den hohen Strüssligrat oder die absteigende Südflanke des Berges. Wir entscheiden uns für die kürzere Route über die Südseite, die steil und steinig abwärts geht und benötigen deutlich länger als auf dem Wanderwegweiser angegeben. Mittlerweile hat auch das Wetter umgeschlagen, es wird windiger und kühler mit häufigen, kurzen Regenschauern. Nach knapp eineinhalb Stunden erreichen wir endlich unser Ziel und sind froh, wieder auf halbwegs ebenem Boden zu stehen – steiles Bergabwandern ist auf Dauer anstrengender als bergauf.
Die Alp ist seit Generationen im Besitz der Familie Bühler, die hier von Mai bis Oktober hauptsächlich von der Milchwirtschaft lebt. Gemeinsam mit einigen Festangestellten und Helfern versorgen sie 20 Milchkühe, welche ab Mitte Juni von der tiefer liegenden Vorweide aufgetrieben und gesömmert werden, d.h. die Sommermonate auf der Alp verbringen. Aus der Milch werden auf der Alp verschiedene Käsesorten und andere Produkte hergestellt, wie Mutschli, ein Hartkäse, Weich- und Hobelkäse sowie Butter und Nidletäfeli. Diese kennt man in anderen Regionen der Schweiz auch als Rahmtäfeli, kleine sahnige Caramellbonbons, die auf der Zunge zergehen. Hier auf der Alp sind sie besonders fein, ein süsser Traum aus Rahm und Butter der guten Milch der Simmentaler Kühe. Und nicht nur wir finden den Käse und die Nidletäfeli wunderbar – die Familie hat für ihre Produkte auf der Olma, der Schweizer Messe für Landwirtschaft und Ernährung zahlreiche Preise gewonnen.
Neben der Versorgung der Tiere und Käserei führen die Gastgeber einen kleinen Berggasthof mit zünftigem Speisen und verschiedenen Übernachtungsmöglichkeiten. Es gibt einfache Matratzen im Massenlager, das bis zu 30 Wanderfreudigen zur Verfügung steht, zwei schlichte Doppelzimmer sowie drei Sternenbetten im Freien, den Panorama-Bubbles.
Wir haben uns für eines der Doppelzimmer entschieden und werden die kommenden zwei Nächte im «Mieschflueh» verbringen, welches sich auf dem Speicher der Hütte befindet. Die einfache Waschgelegenheit mit kaltem Wasser und die Toilette wird von allen auf der Alp benutzt: den Familienangehörigen, Angestellten und Übernachtungsgäste des Massenlagers. Die Gastgeberin warnt uns gleich vor, dass die Nächte kalt seien, aber wir gerne eine Bett- oder Wärmflasche haben könnten. Und in der Tat sinken die Temperaturen nachts deutlich ab, was uns aber dank der Wärmflaschen nichts ausmachen wird.
Das Nachtessen wird um halb sieben in der Gaststube serviert, ausser uns ist noch ein weiteres Paar auf der Alp, heute können wir von der Speisekarte wählen. Alle Gerichte werden in der kleinen Alpküche zubereitet, und auch die Gastfamilie und Angestellten essen in der Stube. Wir entscheiden uns für den reichhaltigen Oberstockenalpteller, einer gemischten kalten Platte mit verschiedenen Fleischsorten und den hausgemachten Käsesorten.
Da es noch früh am Abend ist und lange hell bleibt, möchten wir nach dem Essen zum Oberstockensee, der laut Wegweiser 15 Minuten entfernt liegt. Während wir durch den Wald laufen, hören wir aber bereits erstes Donnergrollen, und als uns ein umgestürzter Baum den Weg versperrt, deuten wir dieses als Zeichen umzukehren. Die Entscheidung kommt keinen Moment zu spät; als wir wieder am Berggasthof angekommen sind, beginnt es zu regnen, und so verbringen wir den restlichen Abend auf dem geschützten Teil der Terrasse.
Der nächste Morgen beginnt so zünftig, wie der Abend geendet hat. Nach der morgendlichen kalten Erfrischung am Waschtrog frühstücken wir in der Gaststube. Übrigens ist es eine nicht ganz zu unterschätzende Angelegenheit sich die Haare mit derartig kaltem Wasser zu waschen…
Das Wetter scheint sich heute von seiner sonnigen Seite zeigen zu wollen und lädt zu einer längeren Expedition ein. Noch überlegen wir, ob wir heute den Strüssligrat zum Stockhorn erwandern oder lieber den Rundweg Cheibehorn – Oberstockensee nehmen. Es ist früh am Morgen, daher beschliessen wir, zunächst am Hinterstockensee vorbei zur Mittelstation Chrindi zu wandern und von dort mit der Seilbahn erneut auf das Stockhorn zu fahren, um die Fernsicht zu geniessen.
Von der Südseite des Bergrestaurants führt ein Stollen auf die Nordseite des Stockhorns mit einer gläsernen Aussichtsplattform. Das Panorama ist auch auf dieser Seite sensationell. Der tiefe und weite Blick richtet sich auf die Stadt Thun, den Thunersee, das Aaretal bis hin zum Jura, dem Elsass und südlichen Schwarzwald. Und es geht noch weiter in die Höhe: Vom Restaurant kann man bis auf den Gipfel steigen und den Rundumblick in alle Himmelsrichtungen geniessen.
Das Wetter in den Bergen ändert sich schnell, die Sonne ist mittlerweile verschwunden, die Berge umhüllen sich mit einer Schicht aus Wolken, und starker Wind kommt auf. Da wir nicht von einem Unwetter überrascht werden wollen, entscheiden wir uns für eine kulinarische Pause im Bergrestaurant. Nach einer Weile beruhigt sich die Wetterlage, so dass wir mit der Gondel zurück zur Mittelstation fahren und uns von dort auf den Rundweg am Cheibehorn begeben.
Die Wanderroute vom Hinterstockensee zum Cheibehorn in Richtung Oberstockensee ist abwechslungsreich, die Flora und Fauna der Region wunderschön und vielfältig. Entlang der Wege wachsen blaue Enziane, weisse Alpenanemonen, gelbe Trollblumen, der Frauenmantel der Alpen, das «Silbermäntelchen» und zahlreiche Schlüsselblumen. Wir passieren währenddessen weitere Alphütten und erreichen schliesslich den Oberstockensee. Auch hier wird geangelt, vor allem Regenbogenforellen und Saiblinge, drei Angler versuchen ihr Glück. Das Wasser ist klar und kalt, in Ufernähe schwimmen zahlreiche kleine Fische einzeln und in grösseren Schwärmen. Grasfrösche und Erdkröten sind hoch aktiv, das Liebesspiel der Amphibien ist im vollen Gange, und Laich umsäumt an verschiedenen Stellen die Uferregion.
Der klare See lädt zum Baden ein, daher suchen wir eine seichte Stelle ohne Amphibienaktivität und tauchen in das kalte Blau ein, zum Schwimmen fehlt uns noch der Mut. Das Wasser ist eiskalt, zugleich aber nach der langen Wanderung wunderbar erfrischend. Kaum wieder bekleidet, ist uns klar, dass wir dieses Erlebnis heute unbedingt noch einmal wiederholen müssen.
Als wir auf der Alp zurückkommen, stellen wir erstaunt fest, dass sich die Anzahl der Übernachtungsgäste seit dem Morgen deutlich gesteigert hat. Drei Paare sowie eine ausländische Filmcrew von sechs Personen werden die Nacht im Berggasthaus verbringen. Die Gastgeberfamilie hat heute für alle gekocht, es gibt einen Salat zur Vorspeise und anschliessend Rösti, Braten und Gemüse; auf Wunsch kann man Nachschlag haben. Das währschafte Essen ist genau das Richtige nach der langen Wanderung.
Erste Müdigkeit macht sich breit, dennoch lockt uns der See zu einem abendlichen Bad. Einige Schwimmzüge schaffen wir, dann dringt die Kälte in den Körper, so dass wir das Wasser schnell wieder verlassen und uns ankleiden. Die abendliche Stimmung am See, die wir auf der Bank in völliger Ruhe und Einsamkeit geniessen, ist magisch und kaum zu beschreiben.
Nach dem Frühstück am nächsten Morgen packen wir unsere Sachen und machen uns ein letztes Mal auf den Weg zum See, um zu schwimmen und Abschied zu nehmen. Anschliessend geht es abwärts in Richtung Mittelstation; der Weg führt uns durch einen märchenhaften Wald, mit teilweise felsigen Abschnitten, aber auch wunderschönen, blühenden Wiesenabschnitten.
Als wir schliesslich mit der Gondel in der Talstation ankommen, haben wir das Gefühl, als wären wir in einer anderen Welt gewesen, entrückt und dennoch geerdet…